Erfahrungslernen
Was ist Erfahrungslernen und wie kann es das Lernen unterstützen?
Ben und seine Klasse von 13 Oberstufenschüler*innen ziehen ihre warmen Jacken an und schnüren ihre Wanderschuhe, während sie sich darauf vorbereiten, das Klassenzimmer zu verlassen und den Wald zu betreten, ausgerüstet mit selbstgebauten Klinometern und Werkzeugen zur Probenentnahme.
Während Ben seine Schüler*innen aus dem Schulgelände hinaus in die winterliche Stille eines Waldes führt, schafft er eine sorgfältig geplante Erfahrung, die darauf abzielt, Wissen zu üben und zu vertiefen und fächerübergreifende Fähigkeiten zu entwickeln.
Ben und seine Klasse machen sich auf den Weg in den Wald. Alle Schüler*innen haben ein Waldstück auswählt, um den Zustand und die Artenvielfalt eines lokalen Waldgebiets zu erforschen und zu untersuchen. Gemeinsam wenden sie ihr Wissen über Dendrologie, Biologie, Ökologie , Trigonometrie und Stichprobenverfahren an, um Rückschlüsse auf den Zustand des Waldes zu ziehen. Sie lernen durch das Erforschen der Wälder.
Bens Schüler*innen sind begeistert, engagiert, eifrig und motiviert dabei. Sie sind in eine sinnvolle Erfahrung eingebunden, bei der tiefgreifendes, handlungsorientiertes Lernen stattfindet.
Das ist erfahrungsorientiertes Lernen in Aktion.
Was ist erfahrungsbasiertes Lernen?
Die von David A. Kolb entwickelte Theorie des erfahrungsbasierten Lernens geht davon aus, dass Lernen am besten durch die Interaktion zwischen den Lernenden und ihrer Umgebung geschieht. Tiefgreifendes Lernen kann stattfinden, wenn sich die Schüler*innen mit dem Lernstoff auseinandersetzten, ihn erlebten, fühlten, reflektierten, analysierten und das Wissen auf reale Situationen anwenden.
Pädagog*innen bringen die Lernenden gezielt mit direkten Erfahrungen in Kontakt, die darauf abzielen, Wissen zu erweitern, Fähigkeiten zu entwickeln und Werte zu klären. Der Schwerpunkt des Erfahrungslernens liegt auf dem Prozess, nicht auf den Ergebnissen - während der Erwerb von Wissen und die Entwicklung von Fähigkeiten ein natürlicher Ausfluss des Prozesses sind.
Der Zyklus des erfahrungsbasierten Lernens
Kolb unterscheidet vier Phasen des Lernprozesses durch Erfahrung:
Konkrete Erfahrung - Die Lernenden setzen sich mit ihrer Umgebung auseinander, lernen etwas völlig Neues oder erleben etwas Bekanntes auf eine neue Art und Weise.
In Bens Waldkurs wagen sich die Schüler*innen in den Wald, eine Umgebung, die ihnen vertraut ist und die sie lieben, und betrachten sie neu durch die Brille der Ökologie.
Reflexive Beobachtung - Die Schüler*innen verbringen Zeit damit, über ihre Beobachtungen nachzudenken, Fragen zu stellen und über die Bedeutung ihrer Erfahrungen zu reflektieren.
Bens Schüler*innen stellen vielleicht eine Lücke in ihrem Verständnis von Trigonometrie fest oder sie fragen sich, was das Vorhandensein von Pilzen über eine bestimmte Waldumgebung aussagen könnte. Sie reflektieren ihre Erfahrungen und öffnen so die Türen für tiefergehendes Lernen.
Abstrakte Konzeptualisierung - In dieser Phase gehen die Lernenden in die Tiefe. Sie entwickeln neue Ideen, ziehen neue Schlussfolgerungen oder passen ihr Denken auf der Grundlage ihrer Überlegungen an.
Bens Schüler*innen untersuchen ihre Daten, sie denken darüber nach, was sie in den Wäldern gesehen haben, welche Schlussfolgerungen sie ziehen könnten und welche Fragen auftauchen. Was bedeutet es, wenn sie feststellen, dass es in der Waldprobe nur wenige Bäume mit einer Höhe von über 20 Metern gibt? Durch die konkrete Erfahrung setzen sie sich auf einer tieferen Ebene mit ihrem Material auseinander.
Sie erforschen, erfahren und lernen!
Aktives Experimentieren - Schliesslich wenden die Lernenden ihr Wissen auf die Welt um sie herum an, machen Beobachtungen und stellen fest, ob ihr Verständnis angepasst werden muss. Dieser Prozess wirkt weiter - auch noch lange nachdem die Schüler*innen das Klassenzimmer verlassen haben.
Ben plant ein grosses Projekt - er will seinen Schüler*innen Gelegenheit, ihr Wissen anzuwenden und seine fächerübergreifenden Fähigkeiten zu vertiefen. Sie werden sich mit einem geplanten Wohnbauland in unserer Gegend beschäftigen. Mit Hilfe der erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse - Ökologie, Biologie, Forstwirtschaft, Wassereinzugsgebiete - werden sie Schlussfolgerungen zu den Auswirkungen dieses geplanten Überbauungsprojekts ziehen. Bei der Bearbeitung dieses Projekts wenden die Schüler*innen ihre Fähigkeiten und Kenntnisse auf ein reales Problem an.
Vorteile des erfahrungsbasierten Lernens
Das Thema wird lebendig!
Die Schüler interagieren direkt mit dem Lernstoff und setzen sich sozial, emotional und sogar physisch mit dem Material auseinander.
Ein Thema, das trocken oder langweilig sein könnte, wird interessant, wenn die Schüler Anwendungen aus der realen Welt sehen.
Schüler*innen sind motiviert
Durch das Erleben und die Interaktion mit einem Thema werden die Schüler in den Lernprozess einbezogen und integriert. Dies erhöht die intrinsische Motivation zum Lernen.
Die Schüler*innen übernehmen mehr Eigenverantwortung für ihren Lernprozess, was ebenfalls die Motivation erhöht.
Soft Skills
Erfahrungslernen erfordert, dass die Schüler kreativer und innovativer werden, wenn sie nach Wegen suchen müssen, um Probleme zu lösen und ihr Wissen auf reale Situationen anzuwenden.
Lernerfahrungen finden oft in Gruppen statt. Die Schüler entwickeln Kommunikationsfähigkeiten und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit.
Fächerübergreifende Fertigkeiten
Eine gut konzipierte Erfahrung bietet die Möglichkeit, eine Vielzahl von Fähigkeiten zu entwickeln. In Bens Kurs verbindet er Biologie mit Trigonometrie, Forstwirtschaft, Naturschutz und sogar Englisch. Die Schüler lernen wissenschaftliche Methodik, sie schreiben auf, lernen Formatierung und üben sogar das Schreiben von Aufsätzen.
Verbesserte Lernergebnisse + Vertieftes Lernen
Das Üben einer Fertigkeit, z. B. das Berechnen der Höhe eines Baumes, stärkt die neuronalen Bahnen und vertieft das Lernen.
Die intensive Auseinandersetzung mit einem Thema erhöht die Motivation, was sich positiv auf die Lernergebnisse auswirkt.
Das Behalten von Wissen wird durch experimentelles Lernen erheblich verbessert.
Erlebnisorientiertes Lernen an der Ecole d'Humanité
Erfahrungslernen ist ein wichtiger Bestandteil des Bildungskonzepts der Ecole d'Humanité. In einem anderen Kurs lernen unsere Schüler*innen zum Beispiel einiges über Physik, wenn sie Experimente auf der Skipiste durchführen. Beim Besuch eines örtlichen Staudammprojekts lernen sie etwas über Kraft, Thermodynamik und sogar über erneuerbare Energien. In den meisten unserer Klassen sind Erlebnisse integriert, die ein ansprechendes und motivierendes Lernumfeld schaffen.